Wussten Sie, dass bei guten Weinen bis zu 500 unterschiedliche Aromen ausgemacht werden können? Damit meine ich nicht die Bewertungen von sich leicht überschätzenden Möchte-gern-Kennern, die sich schlürfend und schmatzend mit der Nase im Glas mit Beschreibungen zu überbieten versuchen. «Überreife Walderdbeeren und ein Hauch von Cassis» ist noch heilig. Auch Pfirsich, Aprikose, Quitte und Ananas haben bei einem Riesling ihre Berechtigung. Aber bei «geteerten alten Eisenbahnschwellen» und «der schier unglaublichen Komplexität mit einem eminent eleganten und Geduld fordernden Gaumen und einem Finale von epischer Länge» fragt man sich, was die Kritiker ausser dem Wein noch zu sich genommen haben.
Aber ich schweife ab. Was ich sagen wollte: Weine können während ihres Herstellungs- und Reifeprozesses sehr vielschichtige Aromen entwickeln. Der Önologe unterscheidet dabei Primär-, Sekundär- und Tertiäraromen. Das Primäraroma umfasst alle Fruchtgerüche, die bereits in der Weinbeere vorhanden und besonders im gepressten Saft wahrnehmbar sind. Die sortentypischen Aromen eben.
Das sogenannte Sekundäraroma umfasst alle Gerüche, die während der Vinifizierung und dem Ausbau entstehen. Hier ist das ganze Wissen, Können und die Erfahrung des Weinbauers gefragt. Leider immer wie mehr auch Technik: extra gezüchtete Hefen können beispielsweise gezielt klar definierbare Aromastoffe produzieren und sogar die Sortentypizität der Rebsorte überlagern. Je nach Ambition des Winzers versucht er unterschiedliche Aromen zu pushen: eine betonte Fruchtigkeit – der Wein riecht nach seiner Traubensorte und Herkunft – oder «gekochte» Aromen nach Konfitüre und Kompott, meist zusammen mit noch mehr Alkohol. Deutlich wahrnehmbare Würznoten – Vanille, Holz, Muskat, Zimt – entstehen im Eichenholzfass, in dem der Wein reift. Produzenten von billigem Wein wie zum Beispiel Primitivo haben aber gar nicht das Geld, um sich neue Eichenfässer zu leisten. Dort werden einfach Holzschnipsel in den Wein geschüttet.
Die Tertiäraromen schliesslich entstehen durch die Reifung des Weines im Flaschenkeller. Typischerweise sind das Alterungsnoten wie von Trockenfrüchten, Nüssen, Mandeln, Gewürzen. Sie entstehen durch das Zusammenwirken von Sauerstoff, Säuren und Alkohol.
Viele Weintrinker bestellen heute bewusst «kräftige, gehaltvolle» Weine und glauben dann, sie hätte damit auch automatisch gute und teure Weine gekauft. Entsprechend sehen die Weinkarten von durchschnittlichen Restaurants aus, in denen sich kein Sommelier um den Keller kümmert. Kürzlich wurde mir in einem italienischen Restaurant ein Chianti Riserva, zwei (!) Primitivo, ein Nero d’Avola und als besonderes Highlight ein Ripasso Superiore aus dem Valpolicella angeboten. Statt der Weinsorten hätte man auch schreiben können: Karamel, Vanille, Kirschen, Zwetschgenkompott. Liest sich wie die Aromen von Limonaden.
Weine schmecken also nicht mehr nach ihrer Traubensorte, nach Herkunft, nach den Erden, auf denen sie gewachsen sind, sondern nach standardisierten Aromen, produziert nach dem, was die Gäste bestellen. Schuld an dieser Misere ist meiner Meinung nach Robert Parker. Eigentlich Anwalt gibt er seit den 80er-Jahren den Newsletter «The Wine Advocate» heraus, in dem er Weine auf einer Skala von 0 bis 100 Punkten bewertet. 98 oder mehr Punkte bekommen nur Weine, welche einen «tiefen und komplexen Charakter aufweisen». Parker hat eine Vorliebe für fruchtige, dichte Weine und hat damit weltweit ganz viele Winzer beeinflusst. Lange waren PPs – also Parker Points – gleichbedeutend mit Preis. Vielen Weinbauern wurde das zum Verhängnis: sie produzieren heute Weine, die schmecken wie x-tausend andere Weine auch. So wird nicht der Wein, sondern das Etikett zum Kaufkriterium.
Probieren Sie das nächste Mal wieder einen Wein, auf dem nicht Riserva oder Superiore draufsteht oder der mit vielen Parker-Punkten beworben wird. Auch Prägedruck und Gold auf der Etikette sollten Sie stutzig machen. Dann haben Sie die Chance zu erleben, was Terroir und Herkunft heisst. Und wieso es eine Rolle spielt, ob es ein lehmiger oder kalkhaltiger Boden war, auf dem der Wein gewachsen ist.
Tipp: Lebendige Weine, die ohne Technik hergestellt wurden, gibt es bei Vive le Vin in der St. Johanns-Vorstadt 49.
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