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Die Blustfahrt

Meine Kolumne für das Gönnermagazin von Hochstamm Suisse «GRANDE»:
Die Blustfahrt

Ich wurde mitten in Basel und in den 60er Jahren geboren. Meine Jugend war geprägt von der Stadtluft, die nicht nur nach dem Unglück in den Schweizerhallen nach Chemie roch, sondern auch von Popmusik mit englischen Texten, Vollversammlungen im Schulhaus und von frisierten Töfflis. Meine Aufmerksamkeit galt weniger den Hausaufgaben als den Mädchen auf dem Pausenplatz. Am Wochenende waren die Abenteuer im Wald mit den Pfadifreunden angesagt. Je nachdem, wie spät ich samstags vom Ausgang heimkehrte, musste ich kreativ sein, um Ausreden für den Sonntagsspaziergang mit den Eltern und im schlimmsten Fall mit den Verwandten zu erfinden. Doch kein Grund war wichtig genug, um die Blustfahrt ins Baselbiet im Frühling zu schwänzen. Da gab’s kein Pardon.

Leon Huber berichtete zwar in den 70er Jahren in der Tagesschau im Schwarz-Weiss-Fernsehen von einer Ölkrise und die Benzinpreise stiegen ins Unermessliche. Aber die Blustfahrt im Frühling war wichtiger als die Sorgen um eine wirtschaftliche Rezession. Mein Vater steuerte das Familienauto mit noch mehr Elan als bei einem gewöhnlichen Ausflug Richtung Baselbiet und Fricktal. Besonders imponierten mir die grossen, ehrwürdigen Bäume. Wenn wir Wetterglück hatten und die Bäume an jenem Sonntag in voller Blüte standen, schienen sie komplett eingeschneit.

Ein paar Jahre später waren Öl- und andere Krisen längst vergessen. Die 80er Jahre boomten und alles schien möglich. 1982 eröffnete das erste McDonald's-Restaurant der Schweiz in Zürich. Trotzdem, wenn wir mal einen Apfel assen, dann war es ein Granny Smith – knallgrün und glänzend wie ein frisch gewaschenes Auto. Fast hätte man glauben können, Äpfel wären immer so gewesen, gemäss der Werbung im Fernsehen, die inzwischen auch farbig war. Nur eine bestimmte Haftcreme war gut genug, um diese superknackigen Äpfel zu essen, und von Shampoo bis Waschpulver schmeckte alles nach Green Apple.

Die Blustfahrten machten wir weiterhin, dank der Beharrlichkeit meiner Eltern. Aber es war unübersehbar, dass es immer weniger der grossen, ehrwürdigen Bäume gab. Wo früher ganze Hügelzüge mit majestätischen Bäumen standen, gab es jetzt Obstplantagen mit kleinen, in Reih und Glied stehenden Bäumen. Bewässerungssysteme durchzogen die Anlagen, und ausgeklügelte Systeme sorgten dafür, dass feinmaschige Netze jederzeit über die Bäume gezogen werden konnten, um sie vor Hagelkörnern und Vögeln zu schützen. Es waren quasi automatisierte Obstproduktionsanlagen. Auch die heimischen Früchte brauchten den Vergleich mit Äpfeln aus Australien und den Kirschen und Pflaumen aus Südeuropa nicht mehr zu scheuen. Gross, saftig und in den sattesten Farben. Leider schmeckten sie nicht mehr nach viel und waren so makellos, dass einem Zweifel aufkommen mussten, ob diese Früchte überhaupt noch an Bäumen wuchsen.

Heute bin ich als Restauranttester, Rezept-Kolumnist und Gastro-Konzepter tätig und bin Hochstamm Suisse sehr dankbar, dass sie mir und den Schweizer Konsumentinnen und Konsumenten die grossen Hochstammbäume zurückbringen. Nicht nur, wenn ich jetzt im Frühling – zwar mit dem Motorrad – eine Blustfahrt mache und mich die grossen Bäume an meine glückliche Jugend erinnern, sondern auch, weil ich ständig auf der Suche nach geschmackvollen Früchten für meine Rezepte oder Produkte bin. Auf meinen Entdeckungstouren habe ich schon viele Produkte entdeckt, die weder in Neuseeland angebaut werden, noch in hiesigen, hochintensiven Anlagen „produziert“ werden können. Es sind die Früchte, die nicht zu den grössten, knackigsten und unversehrtesten gehören, aber dafür viel Geschmack, eine lange Geschichte und sehr viel Heimat haben.

Wer jemals einen Suurgrauech aus Peter Zahners mystischem Garten in Mostindien gegessen hat, wird nie wieder einen anderen Apfel als den Suurgrauech, welcher übrigens überhaupt nicht sauer ist, für seine Wähe haben wollen. Oder wer je an einem von Bruno Muff aus eigenen Früchten destillierten Gelbmöstler gerochen hat, wer diesen Geschmack dieser uralten Birnensorte entdeckt, der bekommt erst eine Ahnung, was der Begriff Fruchtdestillat bedeuten kann. Erst wem die Augen schon ein bisschen gebrannt haben vom Rauch, der aus den Casinas genannten Hüttchen aufsteigt, in denen Marco Giovanoli die Kastanien über dem Feuer trocknet, hat einen Eindruck davon, welche lange Tradition und Bedeutung die seit Generationen gepflegten Selven im Bergell haben.

Dass nicht nur ich mich über die Früchte der verschiedensten Hochstammgärten freue, sondern auch viele vom Aussterben bedrohte Tiere sich in diesen Landschaften so wohl fühlen, macht diese Gärten umso wertvoller. Im Schlossgarten von Claude Gerber in Porrentruy habe ich das erste Mal in meinem Leben Steinkäuzchen gesehen, die sonst nur noch im Tessin und in der Nähe von Genf leben. Und im Apfelgarten von Brunners schauen Wiesel dazu, dass es nicht zu viele Mäuse gibt. Fledermäuse finden in den Baumhöhlen in den alten Bäumen von Thomas Öhler optimalen Schutz und man hört den Gesang des Trauerschnäppers. Heute weiss ich, dass es richtig war, dass mir meine Eltern am Sonntag der Blustfahrt keine Ausrede durchliessen und mich mitnahmen in diese Kulturlandschaften, welche unser Land zum Glück heute wieder massgeblich prägen.

Studio für Klartext
Tom Wiederkehr
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